Intervention, 2020

»Man harrt der Dinge, die da kommen oder auch nicht kommen. Eine gute Übung, denn es soll um ein neues Ideal gehen, das Friedrich von Borries vorgeschlagen hat: Folgenlosigkeit.«

Katrin Zeug, Zeit Wissen

1600 Euro damit man etwas unterlässt. Das »Stipendium für Nichtstun« war Teil der »Schule der Folgenlosigkeit« und hinterfragte die gängigen Mechanismen des Leistungsdenkens. Es lud dazu ein, über die Verbindung der eigenen Lebenswirklichkeit, der gesellschaftlichen Strukturen und dem Klimawandel nachzudenken. Aus 2864 Bewerbungen aus 70 Ländern wurden drei Gewinner:innen wurden ausgewählt.

Für die Teilnahme waren vier Fragen zu beantworten: Was will ich nicht tun? Warum ist es wichtig, das nicht zu tun? Wie lange will ich das nicht tun? Warum bin ich der:die richtige, das nicht zu tun.

»Der Interviewtermin mit dem Architekten und Künstler Friedrich von Borries beginnt mit Warten. So richtigem Warten. Nicht diesem Warten, bei dem alle paar Minuten eine Nachricht eintrifft: Sorry, bin zu spät. Bin gleich da. Noch zehn Minuten. Noch drei. Und so weiter. Beim echten Warten weiß man nicht genau, warum man wartet, ob noch was passiert und wenn ja, wann. Man wartet in die ungewisse Zeit hinein. Friedrich von Borries erscheint nicht in dem digitalen Raum, der für das Gespräch vorgesehen war. Eine Nachricht von ihm kommt auch nicht.«

Katrin Zeug, Zeit Wissen

»Gewiss ist eine Distanz zum permanenten Leistungsdruck begrüßenswert. Natürlich ist der Müßiggang unbezahlbarer Treibstoff für ein selbstbestimmtes Leben. [...] Eine Leistungsschau, ein Wettbewerb zum Erwerb des „Oblomow“-Stipendiums, das mit einem Bericht über die Resultate (!) des Nichtstuns abzuschließen ist? Da legst di’ nieder, wie man weiter südlich zu sagen pflegt.«

Daniél Kretschmar, Taz

Aus den 2864 Einreichungen wurden 14 Finalist*innen nominiert, darunter neben den Gewinnerinnen u.a.:
Ein 9-jähriger Schüler, der sich aus ökologischem Verantwortungsgefühl nicht mehr von seiner Mutter zur Schule fahren lassen möchte, eine brasilianische Aktivistin, die in ihrem Dorf Plastikmüll sammelt, eine Ärztin, die keine suchtfördernden Schmerzmittel mehr verschreiben will, wenn sich die Erkrankung auch anders behandeln ließ, eine Fernsehreporterin, die vier Wochen lang keine negativen Nachrichten mehr verbreiten will, ein Mann, der zehn Tage nicht mehr sprechen, dafür aber anderen umso aufmerksamer zuhören möchte, eine Frau, die so bleiben will, wie sie ist, und damit auf den Selbstoptimierungszwang in der Gesellschaft (und der Ausschreibung) hinweist.

Preisträger:innen

Hilistina Banze
»Ich werde mein Kopftuch eine Woche nicht «, so das Vorhaben der muslimischen Feministin. Die Sozialpädagogin und Integrationsberaterin aus Hamburg möchte ihr auf 3 mm kurzrasiertes Haar zeigen und so gleich mehreren Rollenklischees entgegentreten. Damit setzt Hilistina Banze (31) sich – wie viele andere Bewerber*innen auch – mit den Erwartungen und Rollenbildern auseinander, die insbesondere an Frauen herangetragen werden. Die Jury beeindruckte die Radikalität und die Vielschichtigkeit des Experiments und ist gespannt auf die Erfahrungen, die Hilistina Banze als Frau, als Muslima und als Feministin sammelt.

Mia Hafner
»Ich will für zwei Wochen keine verwertbaren, personenbezogenen Daten über mich generieren.« Das bedeutet umfangreiche Einschränkungen für die 26-jährige Konzepterin und Studentin aus Köln: Kein Smartphone nutzen, keine E-Mails abrufen, nicht online shoppen – allesamt Tätigkeiten, auf die auch viele andere Bewerber*innen verzichten möchten, weil sie zu viel Energie verbrauchen, soziale Beziehungen belasten, zum Konsum verleiten und unkontrollierbare Datenspuren von sich und anderen hinterlassen. Bemerkenswert fand die Jury Mia Hofners Klarheit, mit der sie die Folgen ihres täglichen Handelns reflektiert und sich gleichzeitig bewusst ist, dass sie dem digitalen Datentransfer nicht für immer entkommen kann.

Kimberly Vehoff
»Ich will meinen Beruf nicht ausüben« schreibt die 22-jährige Fachkraft für Lebensmitteltechnik aus Bad Fallingbostel. Stellvertretend für sehr viele Bewerbungen bringt Kimberley Vehoff eine grundlegende Unzufriedenheit mit den ökonomischen Zwängen und dem Leistungsdruck der Gegenwarts- gesellschaft zum Ausdruck. Besonders überzeugend fand die Jury, dass die sozialen Beziehungen von Kimberley Vehoff durch wechselnde Früh-, Spät- und Nachtschichten sowie einer 6-Tage-Woche leiden, und sie das Stipendium nutzen will, diese emotionalen Bindungen wieder zu stärken.

Das Stipendium für Nichtstun wurde finanziert durch die Leinemann Kunststiftung Nikolassee.

Jury:
Die Jurymitglieder – MK&G-Direktorin Tulga Beyerle, der Philosoph und HFBK-Gastprofessor Armen Avanessian und die Juristin Eva-Dorothee Leinemann – entschieden sich, bei der Prämierung die inhaltlichen Bandbreite der Einreichungen abzubilden und der Subjektivität der Bewerber:innen Raum zu lassen.